7. Juli 2022 | Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Niedersachsen e.V.
Start der Wanderausstellung "Tell Their Stories"
Erinnerung an junge Opfer rechter Gewalt
In Niedersachsen erzählen Schüler*innen die Geschichten von 21 jungen Menschen, die zwischen 1943 und 2020 Opfer rechter Gewalt geworden sind. Die Wanderausstellung „Tell Their Stories – Erinnerung an junge Opfer rechter Gewalt“ wurde am 30. Mai 2022 durch die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Niedersachsen e.V. in Kooperation mit der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen e.V. eröffnet.
Wenn man an Opfer von rechter Gewalt denkt, sind schnell die Verbrechen des Nazi-Regimes vor Augen. Eine derartige Maschinerie der Massenvernichtung, getrieben von einer menschenverachtenden Ideologie, ist zurecht bis heute mahnend präsent. Diskriminierung, Rassismus und Gewalt bis hin zu Morden, legitimiert mit rechtem Gedankengut, hat es allerdings bereits vor und auch nach dem so genannten Dritten Reich gegeben. Im Jahr 2020 entstand in der AG Jugendarbeit gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) des Landesjugendrings Niedersachsen die Idee eines Erinnerungsprojektes, das diese Kontinuität thematisiert. Aus den Jugendverbänden heraus wurden 40 Biografien vorgeschlagen und gemeinsam 21 Lebensgeschichten ausgewählt, welche nun in der Ausstellung vertreten sind. Die am Projekt beteiligten Schüler*innen entwickelten im Rahmen von schulkooperativen Projekten die Texte und Ausstellungsexponate. Sie schrieben Gedichte, erstellten Collagen, malten Bilder und gestalteten Gedenkorte. Die Erinnerung an die jungen Opfer rechter Gewalt wird somit aus der Perspektive junger Menschen von heute erzählt.
Ausstellungseröffnung in Hannover
Bei der Eröffnung der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten Ausstellung betonte der Niedersächsische Kultusminister Grant Hendrik Tonne, dass die Jugendlichen anderen Jugendlichen einen intensiven und zugleich kreativen Zugang zu diesem herausfordernden Thema ermöglichen. Als Schirmherr der Ausstellung würdigte er ihre Arbeit und sprach ihnen zu, dass sie von Lernenden zu Lehrenden geworden seien.
Zu der Eröffnung reisten auch mitwirkende Schüler*innen an und stellten in ihren Beiträgen einige Biografien heraus, die sie besonders beschäftigt hatten. So beispielswiese Ernst Lossa, der mit 14 Jahren zum „Psychopathen“ deklariert wurde und dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer fiel. Oder Karol Kwiek und Joska Czori, die 1960 von einem Polizisten erschossen wurden, nachdem sie in einer Schlachterei für eine Taufe einkaufen wollten und man sie zunächst wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Roma verjagte. Von den beiden Freunden gibt es keine Bilder, sodass die Jugendlichen nach ihren Vorstellungen ein Portrait von Joska Czori zeichneten, um seiner Geschichte ein Gesicht zu geben. Auch die Geschichte der Geschwister Saime und Hülya Genç, die 1993 beim Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen starben, war an diesem Tag präsent. Ihr Todestag hatte sich am Tag vor der Ausstellungseröffnung, am 29. Mai, gejährt. Mit 4 und 9 Jahren sind sie die jüngsten in der Ausstellung vertretenen Opfer. Die Schüler*innen haben auf ihrer Tafel ihre Fassungslosigkeit in Form eines kurzen Gedichts sowie auch Kindheitserinnerungen durch Spielzeugfotos zum Ausdruck gebracht.
Ausleihe und Einsatz von „Tell Their Stories“
Es ist wichtig anzuführen, dass die Ausstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Die Auswahl für die Biografien zu treffen, war nicht leicht und viele Geschichten bleiben unerzählt. Deswegen ist ebenfalls ein namenloser Aufsteller integriert, der für all diejenigen Personen steht, die keine Erwähnung finden und zu denen beispielsweise keine konkreten Daten und Angaben mehr recherchierbar sind. Dies ist ein möglicher Ansatzpunkt, um in die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen anhand von „Tell Their Stories“ einzusteigen. Dabei kann es um die Fragen gehen, wer wird eigentlich erinnert, von wem und in welchem Rahmen? Gibt es Gedenktage oder Orte der Erinnerung? Wie funktioniert Erinnerungskultur gesellschaftlich? Schon in der Ausstellung wird deutlich, dass Erinnerung auch ein Politikum sein kann und es in Deutschland eine unterschiedliche Gewichtung gibt.
Weitere Themenfelder für die intensivere Auseinandersetzung sind die Herausarbeitung von rechter Gewalt: Welche Definition oder Elemente können anhand der gezeigten Beispiele abgeleitet werden? Ist es immer so eindeutig? Wie kann es zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen? Nicht nur die Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland, sondern auch der internationale Bezug wird beleuchtet. So ist die Geschichte des US-Amerikaners Oscar Grant zu sehen, der durch einen deutschen Polizisten in Oakland erschossen wurde. Das Projektteam unterstützt die Ausstellung durch die pädagogische Begleitung unter anderem anhand der genannten Themen.
Textbeitrag von: Lisa Gellert
Die Ausstellung hat am 23. Juni ihre Zelte in Verden beim Landesjugendcamp der Evangelischen Jugend der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers aufgeschlagen. Informationen zur Ausleihe gibt es bei Gesa Lonnemann.