20. August 2024 | Deutsche Islam Akademie Berlin
Sommerakademie "Gender/log"
Ein Raum für Austausch, Kontroversen und Bildung
Die Sommerakademie „Gender/log Perspektiven – Chancen – Herausforderungen“ der Deutschen Islam Akademie (DIA) bot Raum für horizonterweiternde Erkenntnisse, kontroversen Meinungsaustausch, Emotionen und die Einsicht, dass man nicht bei allem einer Meinung sein muss, aber wohl daran beteiligt sein sollte, Raum für Andersdenke zu schaffen.
Das Thema Gender polarisiert und betrifft uns alle. Ob in den Medien, in der Politik oder in der Gesellschaft – Debatten werden oft hitzig geführt. Rechte Parteien wettern gegen den „Gender-Wahn“, während LGBTQ-Aktivist*innen für mehr Akzeptanz und Vielfalt kämpfen. Traditionelle Geschlechterrollen und moderne Schönheitsideale prallen aufeinander und beeinflussen unser Leben täglich. Auch religiöse Gemeinschaften sind betroffen. Die katholische Fraueninitiative „Maria 2.0“ beispielsweise fordert seit 2019 den Zugang zu Weiheämtern, während „Maria 1.0“ dagegenhält. Ende 2022 löste der WM-Botschafter Khalid Salman mit seiner Aussage zu Homosexualität in Deutschland virale Debatten über das Verhältnis von Islam und gleichgeschlechtlicher Liebe aus. Fortgeführt wird dies in der medialen Rezeption von Studien, die muslimischen Menschen überdurchschnittlich oft queerfeindliche Gesinnungen zusprechen. Debatten zum Kopftuch kann in den letzten 20 Jahren nichts den Wind aus den Segeln nehmen, auch nachdem 2015 das Bundesverfassungsgericht entschied, dass eine pauschale Diskriminierung von Lehrerinnen mit Kopftuch rechtswidrig ist. Doch auch globale Geschehnisse spielen eine Rolle in der deutschen Debattenlandschaft. Angesichts dieser Ausgangslage war klar, dass es bei der diesjährigen Sommerakademie einen Raum für Austausch, Kontroversen und Bildung braucht. Ob es wie in diesem Fall um Gender oder aber den Nahostkonflikt und seine Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland, die Umweltkrise oder den Abbau demokratischer Strukturen geht: Kompetenzorientierung wird substanzlos, wenn die Angebote politischer Bildung nicht in der Lage sind, auf – sich in ihrer Dringlichkeit wandelnde – gesellschaftliche Gegenwarts- und Zukunftsfragen zu reagieren.
Über das Format
Bei der Sommerakademie wurden in kurzen Vorträgen, den sogenannten DIA Talks, und den nachfolgenden Diskussionen, unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen und Standpunkte beleuchtet. Dabei handelt es sich um ein Veranstaltungsformat, das an die TED-Talks angelehnt ist. Inspirierende Redner*innen verschaffen den Teilnehmer*innen einen unterhaltsameren, zugleich aber lehrreichen Zugang zu drängenden Gesellschaftsfragen. Bei der Auswahl der Referent*innen wurde bewusst vernachlässigten und marginalisierten Expertisen, Geschichten und Narrativen Raum gegeben. Urteils- und Handlungskompetenzen sowie Fachwissen können nur erworben werden, wenn unterscheidende Sichtweisen einen Raum bekommen und in Austausch miteinandertreten. Die politische Motivation der Teilnehmer*innen, sich als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft zu begreifen, das sich brennenden Themen annimmt und am gesellschaftlichen Diskurs teilnimmt, stärkte das Leitungsteam, indem es mit den Speaker*innen Absprache hielt: Welches Lernziel haben wir? Welche Probleme können beim Talk auftreten? Welche Chance bietet das einzelne Event?
Schulworkshops zu Queerness und Islam
Einen besonderen Platz nahmen im Laufe der Woche die Schulworkshops zum Thema Queerness und Islam ein, die von Mitarbeiter*innen der DIA eigens konzipiert und erstmalig gelauncht wurden. Hiermit reagierte die DIA auf den Bedarf und das Feedback von Schulen, Lehrer*innen und Schüler*innen das Thema LGBTQIA* und Religion mit Fokus Islam zu reflektieren. Kompetenzen, die vermittelt wurden, fokussierten sich auf den Bereich des Fachwissens und der Urteilsfähigkeit. Die Schüler*innen setzen sich unter anderem mit Koranversen auseinander und lernten theologische Positionierungen aus unterschiedlichen geographischen, epochalen und ideologischen Kontexten kennen. Ziel war, Kontroversität und Meinungspluralität sichtbar zu machen, um reduktionistische Perspektiven zu Gender, durch den Zuwachs von Fachwissen aufzulösen. Erweitert wurde das Angebot durch die Darstellung von Lebensbiografien junger queerer Muslim*innen, welche die Mitarbeiter*innen der DIA für die Veranstaltung interviewten und in Steckbriefen darstellten. Dieser Teil gefiel den Schüler*innen besonders gut, da er verständlich machte, wie stark religiöse Positionen, Gesetze und gesellschaftliche Missstände den Handlungs- und Entfaltungsrahmen anderer Menschen determinieren. Sie prägen die Laufbahn von Menschen und ihre eigene Verortung. Ein Schüler äußerte die Annahme, dass Muslim*innen nur einen Standpunkt zur Frage der Bi- und Homosexualität vertreten dürfen. Am Ende des Workshops vertrat er immer noch dieselbe Position und weiterhin die Meinung: meine Position ist die richtige. Er erkannte aber das Bestehen anderer Deutungen und ihren Platz in dieser Welt an. Genau eine solche Stärkung von Ambiguitätstoleranz, erfüllt den Zweck des Angebots.
Intergenerationeller Austausch: Lehren aus Srebrenica
Am 11. Juli fand ein intergenerationelles Format mit der Veranstaltung „Gender als Waffe – Lehren aus dem Völkermord in Srebrenica“ statt — sechs Wochen nachdem die UN-Generalversammlung ihn zum internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica 1995 erklärte. Die Referent*innen zeigten auf, auf welche Weise gegenderte Gewalt im Völkermord an den Bosniak*innen eingesetzt wurde. Neben der Einführung in den Hergang des Völkermord in Srebrenica, wurde auch auf vernachlässigte Geschichten innerhalb dieses Völkermord eingegangen, wie die systematische Vergewaltigung von Frauen und Gewalt an Kindern. Weiter wurden die daraus resultierenden Erkenntnisse gemeinsam mit den Teilnehmer*innen auf andere politische Kontexte angewandt. Dazu zählen die Invasion der USA in den Irak, Internierungslager in China, das Leid in Gaza und der Erfolg rechter Parteien wie der AfD. Teilnehmerinnen einer Gruppe für kriegstraumatisierte Frauen boten einen nahbaren Einblick in die Herausforderungen der Lebensgestaltung, von Menschen mit Trauma. In den Gesprächen zwischen den Teilnehmer*innen wurden Perspektiven geteilt, Bündnisse aufgebaut und zukünftige gemeinsame Vorhaben diskutiert.
Female Leadership: Perspektiven für junge muslimische Frauen
Den Abschluss einer thematisch sehr vielfältigen Woche bildete ein Veranstaltungstag zum Thema Geschlechterrollen. Die DIA erkennt den spezifischen Bedarf junger muslimischer Frauen und Mädchen im Kontext Schule und Familie sowie auf dem Arbeitsmarkt und in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe und organisierte daher einen Workshop zum Thema „Female Leadership“ mit der Fachreferentin für Antidiskriminierung und Theologin Dr. Noha Abdel-Hady. Dr. Abdel-Hady wählte einen vielschichtigen Ansatz: in einer Übung, dem sogenannten „Identitätsmolekül“ wurden die Teilnehmerinnen zur Selbstreflexion angeregt und Bezug zur Außenwelt hergestellt: „Wer bin ich in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten?“. Eine weitere Übung war die „Zukunftswerkstatt“, in der die Teilnehmerinnen, der Frage nachgingen: „Wie könnte eine Welt aussehen, in der Female Leadership erfolgreich ist?“ Die Teilnehmerinnen schlussfolgerten, dass der gesellschaftliche Rahmen maßgeblich darüber entscheidet. Allzu oft können Frauen ihre individuellen „Superkräfte“ gar nicht erst ergründen, weil ihnen durch patriarchale Normen und diskriminierende Praxen wie pauschale Kopftuchverbote am Arbeitsplatz, in denen sich Sexismus und antimuslimischer Rassismus verschränken, der Wind aus den Segeln genommen wird.
Die Sommerakademie machte deutlich, wie wichtig eine gelungene multidisziplinäre und machtkritische politische Bildung ist. Sie lehrte, dass selbstbestimmtes Denken und Handeln durch sich überlagernde soziale Ungleichheiten bestimmt wird, welche es wahrzunehmen und tiefer zu beleuchten gilt. Informierte Teilhabe und Mitgestaltung kann nicht auf einem fairen Fundament fußen, wenn Bildungsträger in der Konzeption ihrer Formate lediglich gesellschaftliche Grundprobleme thematisieren. Vielmehr muss es gelingen, dass bei der Durchführung der Events reflektiert wird, wer mehr und wer weniger gehört wird und welche Akteur*innen ihre Vorstellungen zum Gemeinwohl durchsetzen. Weiterhin soll der Erwerb von Kompetenzen und Wissen unter den Teilnehmer*innen zu einem Verständnis führen, wie Ausschlüsse begründet und verfestigt werden. Welche Rolle spielt man im Geschehen jetzt und welche kann man zukünftig spielen? Dieser Frage wird die Deutsche Islam Akademie auch in der nächsten Sommerakademie nachgehen.
Kontakt: Armin Begić
#weiterlesen: Inspirierende Stimmen von der Sommerakademie gibt es auf der Webseite der Deutschen Islam Akademie.