Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung
18. August 2025 | Evangelische Akademie Frankfurt

Mission Ganymed und das Mysterium der verschwundenen Bäume

Ein Serious Game zu Verschwörungserzählungen


Überschwemmungen. Dürren. Schmelzende Gletscher. Überhitzte Städte. Missernten. Die Welt steht vor dem Klimakollaps! Während die Bevölkerung mit immer mehr Verzicht versucht, die Folgen des Klimawandels aufzufangen, schmiedet eine Gruppe von Milliardär*innen, bekannt als die „Liga der Superreichen“, längst einen anderen Plan. Im Verborgenen gründen sie die Ganymed Space Agency – kurz GSA. Sie beginnen, die letzten unberührten Wälder der Erde zu plündern. Gigantische Maschinen reißen Bäume mit Wurzeln und Erdreich aus dem Boden, verladen sie auf gewaltige Raketen und schießen sie in den Orbit. Ihr Ziel ist Ganymed, der größte Mond des Jupiters. Jahrhundertelang galt er als unwirtlich, doch die Superreichen sehen in ihm die letzte Hoffnung. Ganymed ist ein Eismond mit einem Durchmesser von 5262 Kilometern und besitzt eine sublimierte Wasseratmosphäre. Das bedeutet: Menschliches Leben auf dem Ganymed ist möglich. Die ersten Flotten erreichen Ganymed, wo riesige Kuppelstädte errichtet werden, um die neuen Siedler zu beherbergen. Wälder wachsen in den kuppelförmigen Biosphären, genährt von der schwachen Strahlung Jupiters und dem Wasser, das tief im Eismantel Ganymeds verborgen liegt. Doch für die Erde ist es zu spät. Die Rodungen hinterlassen verwüstete Landstriche. Es ist ein Raubzug gegen die Natur, verübt im Namen des Überlebens – jedoch nicht für alle. Die Liga hat sich ihr Paradies erkauft – und dafür den Heimatplaneten geopfert.

Was klingt wie das Science-Fiction-Szenario einer düsteren Zukunft, ist eine frei erfundene Verschwörungserzählung, die junge Menschen ab sofort in der neu entwickelten Spiele-App „Mission Ganymed und das Mysterium der verschwundenen Bäume“ dekonstruieren dürfen. Im Spiel verbreiten „The Readers“, die Anhänger*innen dieser Verschwörungserzählung, ihre Überzeugung auf verschiedenen Social-Media-Kanälen. Unter dem Slogan #LoveEarthReadTheSigns wollen sie möglichst viele Menschen überzeugen und aufstacheln, die Liga der Superreichen zu stoppen.

Medien- und Quellenkritik spielerisch fördern

Die Jugendlichen spielen eine Gruppe von Schüler*innen, die an ihrer Schule einen eigenen YouTube-Kanal betreiben. Sie unterhalten sich in der Spiele-App, um Ideen für ihr nächstes Video zu spinnen. Nick, ein Mitglied der Gruppe, erfährt von der Verschwörungserzählung der Readers und verstrickt sich immer tiefer hinein. Er fordert die Gruppe auf, sich intensiver mit Hinweisen auf die Verschwörung zu beschäftigen. Die Jugendlichen erleben den Sog, den eine Verschwörungsgeschichte entfalten kann, und setzen sich im Spielverlauf kritisch mit Hinweisen auf die Verschwörung auseinander, die ihnen von Nick zugespielt werden (Videos, Chat-Nachrichten, pseudowissenschaftliche Artikel). Die anderen Gruppenmitglieder sind sich unsicher, ob sie der Verschwörungserzählung Glauben schenken sollen. Werden die Schüler*innen die Erzählungen der Readers als erfunden entlarven? Gelingt es ihnen, ihren Freund Nick vor dem immer größer werdenden Einfluss der Readers zu schützen?

Die Übergänge von Verschwörungserzählungen zu anderen problematischen Formen der Desinformation, wie gezielten Falschinformationen oder Populismus, sind fließend. Wie behält man da den Überblick? Das Ziel, die Medien- und Falsifizierungskompetenzen junger Menschen zu stärken und sie im Wirrwarr der Informationen nicht allein zu lassen – und das auf eine Art und Weise, die nicht belehrend von oben kommt, sondern Spaß macht –, hat das Entwicklungsteam bei dem ambitionierten Projekt „Mission Ganymed“ angespornt. Eine Projektgruppe innerhalb des der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung (et) hat über mehrere Jahre an der Entwicklung des Spiels gearbeitet. Im März wurde das Ergebnis feierlich gelauncht und steht nun als Open Source frei zur Verfügung. Das Spiel ist kein Stand-alone-Produkt, sondern funktioniert eingebettet in einen Workshop mit Reflexion und Transfer in einer Auswertungsrunde. Das Handbuch zur Methode erscheint diesen Herbst.

Vom Science-Fiction-Plot zur Bildungsressource

Die weite Welt der Verschwörungsideologien in ein Spiel zu gießen, war kein leichtes Unterfangen. Das Entwicklungsteam hat gemeinsam mit professionellen Gamedesignern gerungen, die konkreten Vorstellungen von anspruchsvoller politischer Bildung in ein kurzweiliges Spiel umzusetzen, das auch noch die Komplexität von Funktionen und Gefahren von Verschwörungsideologien authentisch darstellt. Immer wieder wurde beharrlich an Formulierungen gefeilt, um menschenverachtende Ideologien, wie sie sich in den meisten Verschwörungserzählungen finden, nicht noch unnötig zu reproduzieren. Das zentrale Ziel war von Anfang an, Jugendliche dafür zu sensibilisieren und in der Überprüfung von Quellen zu schulen. Je tiefer wir in die Spielentwicklung einstiegen, umso deutlicher traten die sozialen Beziehungen unter den von uns ausgedachten Protagonist*innen zutage. Es stand die Frage im Raum, wie wir mit Menschen umgehen, die – so wie Nick im Spiel – an Verschwörungserzählungen glauben. Die jungen Menschen, die „Mission Ganymed“ spielen, setzen sich auch mit dieser Frage auseinander und werden herausgefordert, dazu eine Haltung zu entwickeln.

Verschwörungsideologien folgen meist dem gleichen Muster. Einer Person oder Personengruppe wird misstraut und Macht zugesprochen. Dieser oft als Elite bezeichneten Person oder Personengruppe werden bösartige Machenschaften unterstellt. Daraus entsteht der Glaube an eine Verschwörung, die es aufzudecken gilt. Verschwörungsideologien erfüllen dabei meist die Funktion, unübersichtliche und vielschichtige Problemlagen der Welt mit vereinfachenden Vorstellungen von „gut“ und „böse“ zu entkomplexisieren und dem Leid in der Welt einen Sinn zu geben. Wer einer Verschwörungserzählung glaubt, meint, über exklusives Wissen zu verfügen und zu einer Minderheit der „Wissenden“ zu gehören. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gibt Halt und erfüllt das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Für die vermeintlich Unwissenden werden häufig Begriff wie „Schlafende“ oder „Schafe“ genutzt. Sie gilt es zu wecken und von der Verschwörung zu überzeugen.

Man spricht von „Ideologien“, wenn es sich bei den Verschwörungsvorstellungen nicht nur um individuelle falsche Wahrnehmungen handelt, sondern wenn mit dem Glauben an eine Verschwörung ein ganzes Weltbild einhergeht, das Kritik und Widerspruch ausschließt. Das Identifikationsangebot ist dementsprechend wirkmächtig und birgt ein hohes Radikalisierungspotenzial, was nicht zuletzt die grausamen Anschläge von Oklahoma, Utøya, Hanau und Halle zeigen. Verschwörungserzählungen dienen bei solchen Taten als Legitimation für Grausamkeiten gegen vermeintliche Mitglieder der Verschwörung. Denjenigen, die zu den angeblich „Bösen“ gehören oder mit ihnen sympathisieren, wird in unterschiedlichem Ausmaß Gewalt angetan.

Über Verschwörungsideologien lässt sich nicht sprechen, ohne ihre Verwobenheit mit dem Antisemitismus herauszustellen. Über Jahrhunderte wurden vermeintliche Verschwörungen insbesondere Jüdinnen und Juden zugeschrieben, und in vielen Verschwörungsideologien werden Feindbilder beschrieben, die traditionellen antijüdischen Stereotypen entsprechen. Neben den Verschwörungsmythen, die offen antisemitisch sind, nutzen viele Verschwörungsideologien also auch Codes, die indirekt antisemitisch sind – etwa das Bild vom Kraken, der ein gesellschaftliches Geschehen mit seinen Armen steuert. Damit wird durch Verschwörungsideologien ein grundsätzliches Denkmuster eingeübt, an das die jahrhundertealten antisemitischen Ressentiments andocken. Von hier aus ist es dann nur noch ein sehr kleiner Schritt zum offenen Antisemitismus.

„Mission Ganymed“ ist ein Ansatz, um das, was uns gesellschaftlich bewegt, in ein Format für die Arbeit mit jungen Menschen umzusetzen. Über das Medium Spiel können wir Emotionen, die ein wichtiger Aspekt von Verschwörungserzählungen sind, erlebbar machen, anders als in einem klassischen Workshop oder Vortrag. Verschwörungserzählungen haben für die Menschen, die an sie glauben, immer soziale Beziehungskomponenten. Die können wir über fiktionale Charaktere nachstellen und Einfühlungsvermögen herstellen. Das macht das Spiel für Schulklassen, Jugendgruppen, Konfi-Gruppen und weitere Settings gleichermaßen spannend und relevant.

Kontakt: Annette Lorenz