Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung
3. August 2023 | Evangelische Jugendsozialarbeit Bayern e.V.

Gedenkstättenfahrt nach Theresienstadt und Prag

Mechanismen von Ausgrenzung und Propaganda auf der Spur


Dass man mit Städtefahrten das Interesse von Jugendlichen wecken kann – erst recht, wenn diese aus dem ländlichen Raum stammen – ist einer der Gründe, warum das Format in der Bildungsarbeit häufig als Methode eingesetzt wird. Die Möglichkeit, mit den Jugendlichen intensiv und über einen längeren Zeitraum in Kontakt zu kommen und ihnen Zeit zu schenken, diese Erfahrungen zu verarbeiten sowie in einen größeren Kontext zu stellen – das ist es, was die Fahrten auch für Fachkräfte so reizvoll macht. So machte sich die Evangelische Jugendsozialarbeit Bayern e.V. im Juli mit 15 Schülerinnen und Schülern der Münster-Mittelschule Hof auf den Weg nach Prag, um dort vier Tage lang nachzuforschen, wie jüdisches Leben sich in dieser großen und uralten Stadt über die Jahrhunderte entwickelte.

Theresienstadt – ein Beispiel für Propaganda

In Terezín/ Theresienstadt, einer kleinen Stadt ca. 60 km von Prag entfernt, erfuhren die Jugendlichen zunächst, wie die ursprüngliche Stadtbevölkerung zur Zeit der NS-Besatzung umgesiedelt wurde, um aus Theresienstadt ein sogenanntes jüdisches „Ghetto“ zu machen. Diese Bezeichnung verschleierte den Zweck des Ortes als Sammel- und Durchgangslager im nationalsozialistischen Zwangslagersystem. Auch sollte Theresienstadt den Anschein erwecken, die aufkommenden Berichte über die menschenrechtsverletzenden Zustände in den Lagern wären reine Propaganda. Die Nationalsozialisten stellten einen Film auf dem Gelände her, der das „normale“ Leben der Bewohner*innen zeigen sollte. Mit Ausschnitten aus diesem Film arbeiteten die Jugendlichen und erfuhren mehr über die Hintergründe und Funktionsweise von Propaganda.

Anschließend setzte sich die Gruppe zusammen, um die Erlebnisse und Fragen, die sich aus den beiden Tagen in Terezín ergeben hatten, miteinander zu diskutieren und einzuordnen. Dabei konnten die Jugendlichen gut an das Wissen anknüpfen, welches sie schon durch ihren Schulunterricht und einem vorherigen Besuch der KZ Gedenkstätte Dachau gewonnen hatten. Die vielen persönlichen Geschichten, die in der Gedenkstätte weitergegeben wurden, ermöglichten ihnen, sich in das damalige Leben hineinzuversetzen und zu verstehen, welche Mechanismen von Ausgrenzung damals wirksam waren.

Besonders eindrücklich blieb den Jugendlichen die Geschichte eines Überlebenden im Gedächtnis, die sie bei der Führung durch die kleine Festung gehört hatten. Der Mann erzählte, dass Religion in seiner Familie vor der Verhaftung durch die Nationalsozialisten keine große Rolle gespielt habe. Chanukka wurde genauso gefeiert, wie Weihnachten – je nachdem, welche Großeltern sich gerade angemeldet hatten. Als Jude habe er sich zuvor nicht gesehen: „Nur in dieser Zeit war ich Jude“. Auch seine katholische Mutter konnte bis zu ihrer Deportation nicht glauben, dass sich ihre Familie in Gefahr befinden könnte.

„Wir sind alle gleich – Wir sind alle einzigartig!“

Für die Jugendlichen wurde deutlich, wie schnell man zu jener Zeit zum Teil des Feindbildes werden konnte, welches das NS-Regime erschaffen hatte. Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Rom*nja, Menschen mit (scheinbar) anderer Herkunft oder Meinung, anderer sexuellen Orientierung oder körperlicher Beeinträchtigung – alle Menschen, die nicht ins Idealbild der Nationalsozialisten passten, waren gefährdet. Diversität, wie sie heute in Klassenzimmern gelebt wird, wäre vor 80 Jahren in Deutschland nicht möglich gewesen.

Im abschließenden Workshop diskutierte die Gruppe über die großen Themen einer diversen Gesellschaft im Hier und Jetzt. Impulse der Workshopleitung waren: Was bedeutet eigentlich heute Normalität? Was ist jetzt „das Andere“? Wer legt das in unserer Gesellschaft fest und wie geht es den Menschen, die scheinbar nicht dieser Normalität entsprechen?

Dabei reflektierten die Jugendlichen eigene Vorurteile und berichteten von den Grenzen ihrer Toleranz. Sie tauschten sich zu den Einflüssen aus, die sie als Basis ihrer Werte erkennen, und formulierten den Wunsch, in einer Gesellschaft zu leben, welche allen die Freiheit lässt, das eigene Leben nach den jeweiligen Vorstellungen zu gestalten. Diese Offenheit zeugt von dem Vertrauen, das sich in der Woche in der Gruppe bilden konnte – ein weiterer großer Vorteil der mehrtägigen Formate, die möglicherweise gerade bei solch komplexen gesellschaftlichen Themen den idealen Raum schaffen können, um in der Jugendarbeit real gelebte Partizipation zu ermöglichen.

Ansprechperson: Anja Vogel